Die Tradition der Heilkräuter in Paraguay


Die Tradition der Heilkräuter in Paragua

Ein bedrohtes Kulturerbe?


 Als ich noch ein kleiner Junge war und mit meinen Geschwistern im Sommer im Bach spielte, der sich auf der Estancia meines Opas befand, empfahl unsere Oma uns, wenn wir Wasser in die Ohren bekommen hatten, das nicht wieder heraus wollte, auch wenn wir minutenlang mit zur Seite gesenktem Kopf auf einen Bein herumgehüpft waren: „Schüttet euer Urin in euer Ohr, und das Wasser kommt wieder heraus.“ Anfangs lachten wir nur, und gut europäisch erzogen wie wir waren, schenkten wir so einem „komischen“ Vorschlag überhaupt keine Beachtung. Als das Wasser in meinem Ohr auch am nächsten Morgen noch nicht verschwunden war und wir uns weitab von jeglicher „Zivilisation“ befanden, dachte ich allerdings: “Probieren könnte man es ja mal.“ Und siehe oder „höre da“ - es klappte.

Mit Urin werden hier zu Lande viele kleine Übel bekämpft wie etwa Fußpilz oder Hautkrankheiten. Noch weiß ich nicht, welche wissenschaftliche Erklärung dahintersteckt. Mir wurde einmal gesagt, es habe etwas mit der Pikrinsäure zu tun, die darin enthalten ist. In Ländern wie Paraguay kann man sich auch ohne wissenschaftliche Begründungen allein darauf berufen, dass es schon seit etlichen Generationen ohne schädliche Nebenwirkungen funktioniert hat. Mittlerweile sind bereits, und vor allem in den letzten Jahren, unzählige Bücher in ganz Europa erschienen, die die Wunderkraft des Urins anpreisen.als ob es sich um eine „neue“ Entdeckung handelt. Seit der Erfahrung mit dem Urin stellte ich fest, dass meine Oma in vielen Dingen, die mit der Gesundheit zu tun haben, weit mehr wusste als ich mir vorgestellt hatte. Heute weiß ich zum Beispiel, dass Guaven-Blätter helfen, einen wunden Hals zu heilen, dass die Rinde des Guayacan–Baumes, aufgelöst in kochendem Wasser (als Tee), ein hervorragendes Mittel gegen Diphtherie ist, und einige Sachen mehr, die mir heute, nachdem meine Oma gestorben ist, von meiner Mutter vermittelt werden. Besonders was meine kleine Tochter betrifft.
Die Tradition der Heilkräuter ist ein unerschöpfliches Medizinbuch, das in Paraguay in aller Munde ist. Leider wurde es aber in den letzten Jahrzehnten immer mehr, vor allem in der ländlichen Bevölkerung, von einer stärker werdenden allopathischen Strömung verdrängt. Unter Allopathie versteht man die Anwendung und Behandlung der Patienten mit künstlich – im Labor - produzierten Arzneimitteln, im Gegensatz zu Heilkräutern aus dem natürlichen Umfeld. Eines ist klar, viele Menschen bevorzugen eine effektive und fast unmittelbare Schmerzlinderung durch die so genannten „Pein- Killer“. Dieser „Brauch“ ist vor allem in den Vereinigten Staaten sehr verbreitet. Auch in Paraguay hat man sich mittlerweile von diesem Fieber ergreifen lassen. Man bekämpft Schmerzen oder andere Krankheitserscheinungen (Symptome), ganz gleich ob dies mit der Heilung der eigentlichen Krankheit zu tun hat. Hauptsache es verschwindet schnell. Immer mehr Plakate, Fernsehwerbung und Anzeigen werben dafür, die „ewigen“ Rückenschmerzen einfach mit Hilfe von „tolopitrona“ (erfundener Name) zu entfernen. Die eigentliche Ursache bleibt, und dann kommt es oft sogar noch schlimmer. Dass der Patient dann, mit dem kranken Rücken, zum Arzt kriecht ist ein Nachspiel, das meine Oma wahrscheinlich nicht kannte. Ich vergesse nie die sich kreuzenden Blicke meiner Oma und meiner Mutter, wenn ich als kleiner Junge mit Fieber im Bett lag. Beide wussten bereits, was mir fehlte, wollten mich aber nicht beunruhigen da dies logischerweise den Heilungsprozess beeinträchtigt hätte. Dann hörte ich sie wie zwei hochrangige Ärzte im Nebenzimmer miteinander auf Guaraní flüstern. Nach einer Weile kam meine Mutter mit einen ekelhaft schmeckenden Tee herein und redete mir gut zu. 2 Tage später war ich geheilt. Die Tradition der Heilkräuter hat mit einer besonderen Weltsicht zu tun, die in Gefahr ist zu verschwinden. Die Lobby der Pharmaindustrie hat in den letzten Jahrzehnten in Ländern wie Paraguay ernorme Zuwachsraten verzeichnen können. Abgesehen von dem fast unbegrenzten gesetzlichen Spielraum, den sie leider hier genießt. Keiner will heute länger als einen Tag auf Heilung warten. Und doch ist es so, wie die Natur es vorschreibt. Wenn wir in der Lage sind, auf die Natur zu hören und mit ihr zu arbeiten, so wie die vielen paraguayischen Frauen über Jahrhunderte hinweg, statt die „Ausbeutungsmentalität des weißen Mannes“ – wie die nordamerikanischen Indianer zu sagen pflegen – weiterhin auszubauen, gibt es vielleicht noch eine Chance, diesen unschätzbaren Nachlass zu nutzen.


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